Donnerstag, 10. April 2014

Kapitel 3: Der Engel in der Hölle

Juli 1941. Sommer in Warschau, Hitze, kaum etwas zu Essen und überall verweste Leichen. Nun lebten wir schon einige Zeit in diesem Rattenloch. Der Tod meines Bruder hing mir immer noch im Genick und Mutter war nur noch eine Hülle. Vater verbrachte seine Zeit damit, irgendwie an Alkohol zu kommen, um sich mit anderen Leuten die Welt schön zu trinken. Aber was soll man sich an diesem Platz schon schön trinken? Da gab es nicht viel zu machen. Mittlerweile waren wir allein in der 2-Zimmerwohnung. Die Hoffmanns? Die versuchten zu fliehen, aber sie wurden gefasst und öffentlich erschossen. Es glich einem Festspiel. Diese Männer in schwarz ergötzten sich an den toten Menschen als wären sie Götter und könnten über alles und jeden richten, die traurige Wahrheit daran war, dass sie das wirklich konnten. Sie prügelten Menschen nieder, einfach so zum Spaß. Ihr hämisches Lachen ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Selbst als wir meinen kleinen Bruder zu einem selbstgemachten Grab trugen und in niederlegten, standen sie nur hinter uns und lachten, während Mutter nur so vor Leid schrie. Ich wollte auf sie losstürmen, aber was sollte ich schon ausrichten? Natürlich wollte ich auch irgendwie überleben, in solchen Situation ist man einfach egoistisch.
Sie fragen sich sicherlich, wie wir an Essen und Trinken kamen, nunja das war mehr oder weniger die Aufgabe von Johannes und mir. Johannes verstand es nicht mal wirklich, ich sagte ihm, dass dies ein Spiel sei. Ich weiß, das ist krank, aber wie sollte ich ihm das sonst erklären? Wir zogen Tag und Nacht durch die Gassen und fanden auch hin und wieder etwas. Manchmal musste ich darum kämpfen, manchmal konnte man tauschen, wenn man Glück hatte. Irgendwie sind wir immer mit einem blauen Auge davongekommen.
Nach einem weiteren Monat, also im August '41, lernte ich ein Mädchen kennen. Ihr Name war Anna Gruber. Sie kam wie wir aus Berlin, war wie ich ca. 1,65m groß und hatte lange, hellbraune Haare, dunkelbraune Augen und kleine Grübchen, wenn sie lachte. Ein wunderschöner Engel in dieser gottlosen Gegend. Sie half Johannes und mir beim Essen und Trinken beschaffen, da sie schon etwas länger in Warschau lebte als wir kannte sie viel mehr und konnte uns somit gut unterstützten. Ab und zu nahmen wir uns auch mal Zeit für uns beide. Ich weiß es noch als wäre es gestern gewesen, wie wir uns auf einen etwas abgelegten Spielplatz setzten und in unser eigenen kleinen, schönen Welt lebten und uns, wenn auch nur für einen kurzen Moment, von dieser Hölle distanzierten. Wir verliebten uns in einander, es war wie ein kleines Glück für mich, aber das sollte nicht lange währen.
Oktober '41. Später Nachmittag. Anna und ich waren mal wieder auf unserem Spielplatz und lachten lauthals und lebten einfach wieder in unserer Welt. Wir nahmen uns dieses Mal sogar ein klein wenig zu Essen und zu Trinken mit, also eine Art Picknick. Doch dann geschah es. Ein Gruppe von fünf Jugendlichen, ich schätze sie waren so um die 15 bis 17 Jahre alt sahen uns, sie waren wahrscheinlich selbst auf der Suche nach etwas zu Essen und gingen auf uns zu. "He! Wie ich sehe habt ihr da was zu Essen. Es wäre doch eine Schande das nicht mit uns zu teilen, nicht wahr?", sagte einer von ihnen. "Ehm .. davon bekommt ihr nichts! Das gehört allein uns!", schrie ich sie nur an. "Das wollen wir mal sehen!", antworte er zurück und sie rannten auf uns zu. Anna und ich rannten so schnell wie wir konnten, leider in zwei verschiedene Richtungen. Drei waren hinter mir her und zwei hinter ihr. Ich rannte so schnell ich nur konnte und schaffte es dann mich hinter einer Mauer zu verstecken. Dann sah ich nur noch wie sie Anna geschnappt hatten und einer von ihnen ein Messer aus seiner Hosentasche zückte. Er sagte noch irgendetwas zu ihr und stach dann zu, ich hörte nur noch das hämische Lachen der Jugendlichen während mein Engel blutend am Boden lag. Natürlich wollte ich ihr helfen, natürlich wollte ich sie retten, aber ich hatte einfach zu große Angst. Als die Jugendlichen dann das Essen nahmen und weggingen rannte ich zu ihr, sie war noch am Leben. "Es tut mir so leid mein Engel! Ich habe es nicht geschafft dich zu retten, es tut mir einfach so leid!", sagte ich zu ihr während mir die Tränen über mein Gesicht liefen. "Du hättest nichts tun können. Hättest du etwas versucht, hätten sie dich genauso zugerichtet wie mich. Gib dir bitte nicht die Schuld an meinem Tod", sagte sie mehr flüsternd als wirklich sprechend. "Dein Tod?", schrie ich entsetzt. "Du wirst nicht sterben! Ich trage dich zu meinen Eltern und da werden wir dich irgendwie davor bewahren, aber nein, du darfst nicht sterben! Du bist alles, was mich hier noch am Leben hält!" "Es ist zu spät, Fritz. Aber vergiss bitte eines nicht, in deinem Herzen werde ich weiterhin leben. Vergiss das nicht, versprich es mir.", flüsterte sie mir entgegen. "Ich verspreche es dir.", sagte ich ihr mit einem Gesicht überfüllt von Tränen. Ich gab ihr noch einen Kuss und dann hörte sie auf zu atmen und ich saß einfach nur da und starrte ihren leblosen Körper an. Warum? Warum musste mir das passieren? Warum gerade mir?
Und auf einmal war sie wieder da, die Hölle, so nah und so real.

Dienstag, 1. April 2014

Kapitel 2: Eine neue "Heimat"

Wir fuhren Tag und Nacht. Über holprige Landstraßen, Feldwege und befestigte Straßen. Dann waren wir irgendwann da. Wir stiegen aus. "Wo sind wir, Mama?", fragte Johannes ganz unschuldig. Sofort, wie ein Blitz sagte einer der Männer in schwarz: "Das ist Warschau, ihre neue Heimat.". Ich hatte diesen Namen noch nie vorher gehört, aber er sollte mir noch Jahrzente lang im Kopf hängen bleiben. Mein Vater klärte uns dann auf: "Wir sind hier in Polen, meine Kinder.". "Schweigen Sie, Herr Lewy! Wir sind hier nach wie vor im Großdeutschen Reich!", warf einer der Männer sofort und mit ziemlicher Aggression hinein. "Mitkommen jetzt! Wir werden Sie nun in ihre neue Unterkunft bringen.", forderte einer der Männer und wir folgten. Wir gingen durch verschiedene Wohnblöcke und alles war grau und halbwegs zerstört. Dann kamen wir endlich, nach gut 1 1/2 Stunden Fußweg, an und uns wurde erklärt, dass wir nun mit den Hoffmanns zusammen wohnen werden, das waren übrigens vier Personen, Vater Hermann, Mutter Anna, Tochter Julia und Sohn Thomas. Neun Menschen unter einem Dach? Die Unterkunft muss ja riesig sein, dachte ich mir, doch ich irrte mich. Wir zogen in eine 2-Zimmer-Wohnung ein. Ein Rattenloch, kalt, feucht und verrottet. "Hier werden Sie absofort wohnen! Zusammen mit dem restlichen Judenpack!", schrie uns einer der Männer an. Judenpack? Ich verstand es nicht. Nur weil wir Juden sind müssen wir in diesem Rattenloch wohnen? Es riss mir den Boden unter den Füßen weg, die Welt in der wir lebten sollte sich ab diesem Zeitpunkt in eine Hölle verwandeln.
Hölle traf es sehr gut, denn diese Gegend zeugte nur so von Leid, Trauer und Schmerz. Überall wo man hinsah, weinende Mütter, die den Verlust ihrer Kinder betrauerten, weinende Kinder, mehr nicht. Alles war einfach nur voll damit. "Das ist sicher nur vorrübergehend so, Kinder. Bald kommen wir wieder Heim.", sagte Vater voller Hoffnung, aber man merkte ihm die Unsicherheit an. Wir verstanden es alle nicht. Wie kann man Menschen nur aufgrund ihrer Religion hassen? Diese Menschen konnten das irgendwie, doch warum? Die Antwort sollten wir nie klar erfahren, aber man machte uns schnell klar, dass wir einfach anders sind, minderwertig wie es immer so schön betitelt wurde.
Die Tage waren immer gleich, sie glichen dem nackten Überlebenskampf in der Wildnis. Es wurde um Essen und Kleidung gekämpft und getauscht. Ich weiß noch genau, wie ich mich mit einem Jungen über ein paar Schuhe stritt und wir uns prügelten, ich schlug ihn bewusstlos. Nach Wochen und Monaten wurde das zur Routine. Man empfand kein Mitleid mehr, gerade nur noch für die eigene Familie und eventuell noch für enge Freunde. Aber für fremde Menschen? Für die gab es keine Gnade. Es war einfach nur grausam.
Nach circa drei Monaten erkrankte dann mein jüngster Bruder Paul. Lungenentzündung. Er hustete nur noch, hatte hohes Fieber, er war gerade mal vier Jahre alt. Aber was soll man unter diesen Umständen denn tun? Ärzte? Die gab es nicht. Wir taten alles, was in unserer Macht stand, doch nach zwei Wochen starb er dann, in meinen Armen. Ich rannte weg, schrie nach Gott und klagte ihn an, warum er dies alles geschehen lässt, doch eine Antwort bekam ich nicht. Wissen Sie, nach solchen Ereignissen stumpft man ab, man wird kalt, gefühllos, man lebt einfach nur irgendwie, aber irgendwie auch nicht. Ich kann mich noch sehr genau an Mutters Gesicht erinnern als mein Bruder starb. Dieses Leid und diese Trauer, das kann man nicht mit Worten beschreiben. Sie schrie und weinte, Tag für Tag und Nacht für Nacht. Wir beteten ständig, doch Erlösung oder Hilfe erreichte uns nicht.
So sollte es noch bis Mitte 1941 weitergehen.

Samstag, 29. März 2014

Kapitel 1: Abfahrt

9. November 1940, 21:42Uhr, ein kalter Winterabend. Plötzlich krachte etwas durch die Fensterscheibe des Ladens unter der Wohnung und eine Stimme schrie lauthals und mit erdrückender Aggression: "SS! Sofort runterkommen und uns begleiten! Sachen werden nicht gepackt!". Es traf mich wie ein Schlag ins Gesicht und zugleich verstand ich die Situation nicht. Vater stürmte in mein Zimmer, sagte ich solle sofort aufstehen und mit hinunter in den Laden kommen, Mutter ging währendessen zu meinen Brüdern Johannes und Paul. Und ich? Ich bin übrigens Fritz, Fritz Lewy, aus Berlin Kreuzberg. Wir gingen hinunter und standen da. Alle in ihren Schlafkleidern und die Männer in schwarzen Uniformen sahen uns mit Hohn und Spott an und lachten. Aber dann sprangen sie wieder sofort in ihre vorherige aggressive Haltung um. "Sie werden uns jetzt augenblicklich und ohne Widerstand begleiten. Dies ist eine Umsiedlungsmaßnahme und dient zu ihrem eigenen Schutz und Wohl, beschlossen vom Führer selbst.", sagte einer der Männer in schwarz. Ich dachte, er sagt die Wahrheit, doch ich sollte später erfahren, dass dies alles andere als gute Absichten mit sich bringt. Aber was sollten wir schon anrichten? Sie standen mit den Prügeln in der Hand, bereit um uns damit zu überwältigen, sobald wir auch nur den Hauch von Widerstand leisten sollten und das sollte auch nicht lange auf sich warten. Mein kleiner Bruder Johannes, er war damals 7 Jahre alt, schrie nach seinem Stoffbären und rannte die Treppen hinauf um ihn zu holen. Mutter schrie noch, dass er dies nicht tun sollte, doch sofort sprang einer der Männer in schwarz ihm hinterher, packte ihn an den Haaren und drückte ihn zu Boden. Es war eine so surreale Situation. Ein erwachsener Mann, der einen kleinen Jungen zu Boden streckt? Ich verstand es einfach nicht. Johannes schrie rum, weinte, denn er hatte sich den Kopf gestoßen. Der Mann schrie ihn immer weiter an, er soll doch mit dem Heulen aufhören und irgendwann war Johannes still und sein Gesicht zeugte von unglaublicher Angst, eine Angst die ich noch nie im Gesicht eines Menschen gesehen habe. Dann ging es auch schon los. Sie drängten uns aus unserem kleinen Laden auf die Straße, wo am Rand ein kleiner Transporter stand. "Rein da! Na wird's bald!", schrie einer von ihnen und wir stiegen ein. Wir  waren nicht die Einzigen in diesem Transporter, die Hoffmanns, die zwei Straßen weiter wohnen, waren auch da und auch ihre Gesichter zeugten von dieser unheimlichen Angst.
Auf einmal fuhr der Transporter los.